Das Massaker im Gefängnis von Manaus und die Hintergründe des Drogenkriegs
In der Nacht vom 1. auf den 2. Januar 2017 fand im Gefängniskomplex Anisio Jobim im Norden Stadt Manaus einer der schlimmsten Vorfälle der Geschichte Brasiliens statt. Nach ersten Erkenntnissen starben dabei 56 Häftlinge. Zeitweilig waren 12 Justizbeamte als Geiseln genommen worden. Bei einem Ausbruchsversuch kurz vorher in einem Nachbargefängnis konnten zahlreiche Häftlinge fliehen. Darüber, ob beides in einem Zusammenhang steht, ist offiziell nichts bekannt.
[toc]
Gefängnisaufstand oder Drogenkrieg?
Gefängnisaufstände in Brasilien
In Südamerika, und gerade in Brasilien kommt es immer wieder zu gewaltsamen Revolten in Gefängnissen. Die humanitäre Situation in Gefängnissen ist katastrophal und auch der Komplex in Manaus war extrem überbelegt. Statt wie vorgesehen weniger als 500 Gefangene, waren zwischen 1200 und 1500 Häftlinge in Anisio Jobim untergebracht.
Drogenkartelle in Brasilien
Trotzdem handelte es sich nicht um einen Protest gegen die menschenunwürdigen Haftbedingungen, sondern wohl um eine in diesem Ausmaß und dieser Brutalität unvorstellbare Eskalation in der Auseinandersetzung rivalisierender Organisationen, die gemeinhin als Drogenbanden bezeichnet werden, jedoch den Kartellen in Kolumbien oder Mexiko ähnlicher sind, als irgendwelchen Straßengangs. Die wichtigsten dieser Organisationen sind das Primeiro Comando da Capital (PCC) aus Sao Paulo, das Comando Vermelho (CV) aus Rio de Janeiro. In den nördlichen Bundesstaaten Amazonas, Acre, Roraima, und Rondonia besonders stark ist die Familia do Norte (FDN).
Familia do Norte
Die Familie do Norte kontrolliert die wichtige Rota Solimões, die Route entlang des Rio Solimões, und damit den Weg der Drogen von Bolivien und Peru in die Großstädte an der Atlantikküste. Seit 2015 läuft die Operation La Muralla, bei der die Polizei Telefongespräche abgehört, und über eine Million Textnachrichten analysiert wurden. Dabei wurden Tonnen von Kokain im Wert von etlichen Millionen brasilianischen Real und schwere Waffen sichergestellt.
Vorgeschichte des Massakers in Manaus
Drogenkrieg
Im Juni 2015 brach eine über zwanzigjährige Allianz zwischen den beiden größten Organisationen. dem PCC und dem VC. Darauf verbündete sich das VC mit der FDN. Zwischen Samstag, dem 17. Juni und Montag dem 20. Juni 2015 geschahen auf den Straßen von Manaus 38 Morde. Ein Großteil der Opfer waren Mitglieder des PCC. In Gefängnissen wurden im Juni und Juli drei hochrangige Mitglieder der Organisation aus São Paulo ermordet.
Ein zweifelhafter Frieden
Daraufhin organisierte die Regierung des Bundesstaat Amazonas ein Treffen mit José Roberto Fernandes Barbosa alias Z, einem der Köpfe der FDN in eben diesem Gefängnis Anisio Jobim. Das Ergebnis war, dass die gesicherte Unterbringung von Häftlingen der PCC aufgehoben wurde, und die Familia de Norte die völlige Kontrolle über das Gefängnis erhielt. Im Gegenzug sollte sie versprechen, die Mordserie zu beenden.
Anfang Oktober starben in Gefängnissen in den Bundesstaaten Roraima und Rondonia 18 Häftlinge. Ein Großteil gehörte zum Comando Vermelho und zur Familia do Norte. Im Dezember veröffentlichte die Staatsanwaltschaft Rio de Janeiro, dass Rocinha, eine der größten Favelas der Stadt, unter Kontrolle des Primeiro Comando da Capital aus Sao Paulo sei.
Eskalation in Manaus
Am Sonntag erfolgte dann die Eskalation in Manaus. Ein Ausbruch und eine Gefängnisrevolte endete in einer Orgie der Gewalt. 56 Häftlinge wurden getötet, viele davon enthauptet, andere gefoltert, verstümmelt oder verbrannt. Bei fast allen soll es sich um Angehörige der PCC handeln. Abhörprotokolle der Polizei sollen belegen, dass es sich um eine lange geplante Aktion der Familia do Norte handele. Auch wurden Aufnahmen gezeigt, auf denen Personen mit Bannern der FDN posierten.
Fast alle der Ermordeten waren Mitglieder des Drogenkartells PCC. Trotzdem waren sie nicht in erster Linie Häftlinge und Kriminelle, sondern Menschen. Und bevor wir uns der Schuldfrage zuwenden, wünsche ich mir, dass unsere Gedanken und auch unser Mitgefühl bei den Opfern, ihren Angehörigen und Freunden ist. Trotzdem stellen sich natürlich Fragen. Wie konnte es dazu kommen? Und was ist alles falsch gelaufen?
Wie konnte es zu diesem Massaker kommen?
Versagen der Behörden
Auch wenn es keine Revolte gegen die Haftbedingungen war, ist es unter diesen Bedingungen für das Personal unmöglich, die Kontrolle über Haftanstalten zu behalten. Darüber hinaus wurden Untersuchungen bekannt, dass die Absperrungen zwischen den Trakten marode und waren und leicht zu überwinden.
Diese Untersuchungen sind schon über ein Jahr alt. Spätestens seit den Morden in Acre, Rondonia und Roraima gab es genug Anzeichen für einen Krieg zwischen den Kartellen. Auch die Aufzeichnungen, die die geplante Attacke der FDN belegen, existieren sicher nicht erst seit dem Massaker. Es war also verantwortungslos, die Unterbringung von Häftlingen der PCC in geschützten Bereichen aufzugeben. Und noch verantwortungsloser, diese Aufhebung nach den Morden in Rondonia und Roraima aufrechtzuerhalten. Im Gegenteil wäre es nötig gewesen, Häftlinge nicht nur in verschiedenen Trakten unterzubringen, sondern in verschiedenen Gefängniskomplexen. Das geschah zwar jetzt nach dem Massaker, damit aber viel zu spät.
Drogenmafia, Politik und Justiz
Es sind aber nicht nur unverantwortliche Fehler und Versäumnisse, die die Aktivitäten der Drogenkartelle begünstigen. Oft sind es auch Verstrickungen von Politikern und sogar Richtern in die kriminellen Organisationen. Während des Aufstands verlangten die Beteiligten als Unterhändler den Richter Luis Carlos Honório de Valois Coelho. Gegen genau diesen Richter wird allerdings ermittelt. Der Vorwurf lautet auf Verbindungen zum Drogenkartell Familia do Norte.
Louisimar Bonates, der 2015 den Frieden zugunsten der FDN ausgehandelt hatte, legte nur drei Monate später sein Amt nieder. Das war aber nicht das erste Treffen von Bonates mit Barbosa im Gefängnis Anisio Jobim. Schon 2014 gab es ein Treffen kurz vor dem zweiten Wahlgang zur Wahl des Gouverneurs. Und die Nachrichtenseite Veja veröffentlichte schon damals die Transkription eines Mitschnitts. Darin verkündet Barbosa, dass er die Wahl José Melos zum Gouverneur unterstützen werde, und Melo mit den Stimmen aller Mitglieder der FDN und deren Familien rechnen könnte, insgesamt etwa 100.000 Stimmen. Als Gegenleistung verlangte er, dass die Regierung nichts gegen die FDN unternehme und ihr keinen Schaden zufüge. Bonates nahm im Namen Melos an, und bestätigte ausdrücklich die Forderungen der FDN. Schließlich werde Melo im darauffolgenden zweiten Wahlgang gewählt.
In Rio de Janeiro wurden die Politiker Jerominho und Natalino Guimarães wegen Mitgliedschaft in der Drogenorganisation Milicia verurteilt. Nicht verurteilt wurden dagegen Zezé Perrella, in dessen Hubschrauber über 400 kg Kokain gefunden wurden, noch der ehemalige Präsidentschaftskandidat Aécio Neves, auf dessen Grund sich besagter Helikopter befand.
Konkrete Maßnahmen
Natürlich gibt es kein Allheilmittel gegen Drogenkartelle und Organisierte Kriminalität. Wenn man sich jedoch ansieht, wie diese Organisationen in Brasilien ihren Nachwuchs rekrutieren, sieht man auch, wo der Staat nicht nur versagt, sondern gerade auch in die falsche Richtung entscheidet.
Die Situation in brasilianischen Gefängnissen habe ich schon angesprochen. Wer schwach ist, lebt dort gefährlich. Für Schutz sorgen die kriminellen Organisationen. Und wer noch kein Mitglied war, bevor er ins Gefängnis kommt, hat kaum eine andere Chance als eines zu werden.
Politiker, die die Menschenwürde von Häftlingen infrage stellen, wie Jair Bolsonaro oder Geraldo Alckmin, arbeiten damit nur den kriminellen Organisationen in die Arme.
Aber sogar ohne den geringsten Kontakt kann man in die Fänge dieser Organisationen gelangen. Außer kriminellen Aktivitäten arbeiten diese Organisationen zum Beispiel auch als Geldeintreiber für Strom oder Kabelfernsehen. So kommen sie einfach an Daten von Menschen, die finanziell angeschlagen sind. Gleichzeitig können sie diese unter Druck setzen, und Hilfe bei den Problemen durch die Mafia versprechen.
Und auch hier bietet die aktuelle Politik wenig Anlass zur Hoffnung: Das radikale neoliberale Sparprogramm trifft gerade die Ärmsten, und treibt sie in finanzielle Probleme, die die Mafia leicht ausnutzen kann.
Nachtrag: Am 24. Januar wurde das Gefängnis Vidal Pessoa, ebenfalls in Manaus geschlossen. Ein Untersuchungsbericht sprach davon, dass nicht die geringfügisten Anforderungen an die menschenwürdige Unterbringung von Gefangenen erfüllt waren.
Hi Klaus, ganz schön krass, was da so auf der anderen Seite der Erde passiert und wir bekommen hier nichts davon mit. Die Zustände in Gefängnissen sind erschreckend und das schlimmste ist, das anscheinend nicht viel versucht wird um zu verhindern, dass so etwas wieder passiert. Vg, Nina
Hi Nina,
danke für deinen Kommentar. Ja, es ist wirklich erschreckend, wie wenig sich bessert und wie weit die Politik da verstrickt ist. Und ich finde es auch schade, dass gerade die deutschen Medien so wenig über Brasilien und Südamerika berichten.
Viele Grüße
Klaus
Hallo Klaus,
interessant, und danke für diesen Bericht! Meist erfährt man so etwas (wenn überhaupt!) ja nur über die klassischen Medien, ich hatte darüber was im Fernsehen gesehen und irgendwo einen Bericht dazu gelesen. Brasilien ist eigentlich so ein traumhaft schönes Land mit Wahnsinns-Natur, Flora, Fauna, sympathischen Menschen und Problemen, die immer noch nicht gelöst sind. Manaus verbindet man mit dem Amazonas oder dem Opernhaus, aber weniger mit diesen Zuständen. Dabei gehören die ebenso wie die Abholzung des Regenwaldes dazu.
Viele Grüße,
Barbara
Hallo Barbabara,
danke für deinen ausführlichen Kommentar! Ja, du hast recht, ich liebe das Land, die wunderbaren Menschen und die atemberaubende Natur. Aber auch mit imensen Problemen. Und ganz lieben Dank, dass du die Abholzung ansprichst, denn das ist ein ganz wichtiges Thema für die Menschen am Amazonas, aber auch weltweit. Die Karnevalschule Impeatriz thematisiert dieses Jahr den Schutz des Regenwalds und der indigenen Völker. Und dann mache ich sicher auch dazu einen Beitrag.
Ganz liebe Grüße
Klaus
Es ist echt verrückt, was auf der Welt alles los ist!
Da passieren Dinge, die kann man gar nicht glauben … da leben Menschen unter Bedingungen, die können wir uns gar nicht vorstellen …
Natürlich sind solche Eskalationen ein Versagen des Staates (oder besser der Gesellschaft?). Und nein, das Versagen liegt nicht an den maroden Gefängnissen sondern genau so, wie du sagst, darin, dass man fast schon Mitglied in solchen Organisationen sein muss, um zu überleben.
Ich verstehe wirklich nicht, warum die Politik das nicht sieht … ist bei uns ja auch nicht anders. Da wird auch an kurzfristigen Profit gedacht, an die schwarze 0 oder an das Halten von Arbeitsplätzen in veralteten Industrien.
… es könnte so einfach sein, wenn nicht jeder nur an sich denken würde.
Schade.
Viele Grüße
Marc
Hallo Marc,
ja genau das das ist das Problem, die Gier nach Geld und Macht. Und es ist tatsächlich die Gesellschaft und nicht nur die Politik. Es gibt Politiker, die sich einsetzen und auch an gesellschaftlichen Veränderungen ansetzen, wie z.B. Marielle Franco oder Marcelo Freixo. Leider sind es noch zu wenige, aber immerhin ein Grund zur Hoffnung.
Viele Grüße
Klaus