Crivella ist Bürgermeister in Rio de Janeiro – Analyse der Wahl
Das Ergebnis der Bürgermeisterwahlen in Rio de Janeiro steht fest. Der evangelikale Bischof Marcello Crivella setzte sich im zweiten Wahlgang gegen den progressiven Kandidaten Marcello Freixo durch. Im Gegensatz zu vielen anderen Städten in Brasilien handelte es sich dabei um eine echte Richtungswahl.
Was waren die Themen im Wahlkampf? Wo holte Crivella die entscheidenden Stimmen? Was waren die entscheidenden Faktoren?
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Wahlkampf
Bis zum ersten Fernsehduell hatte Freixo gerade einmal elf Sekunden Sendezeit im Fernsehen. Sein Gegenkandidat Crivella hatte nicht nur deutlich mehr Sendezeit, er hatte mit Rede Record, der seinem Onkel und Gründer der Igreija Universal gehört, den zweitgrößten Sender Brasiliens hinter sich. Darüber hatte die IURD wohl in ihren Kirchen W-LAN installiert und den Gläubigen Twitter Accounts eingerichtet. Trotzdem gelang es Freixo in den Umfragen nach den Fernsehduellen jeweils deutlich aufzuholen.
Wahlkampfthemen
Auch wenn im Wahlkampf Schmutzkampagnen eine weit größere Rolle spielten, als inhaltliche Differenzen, war diese trotzdem sichtbar. Vieles bezog sich allerdings auch auf bundespolitische Themen, die außerhalb der Zuständigkeit eines Bürgermeisters lagen.
Drogen
In der Drogenpolitik setzt Crivella auf ein hartes Durchgreifen, während Freixo mit einer Legalisierung und Entkriminalisierung von Marihuana eine Entmachtung der Drogenkartelle anstrebt. Dabei hat Freixo im Kampf gegen das organisierte Verbrechen Erfahrungen vorzuweisen, denn er führte den Untersuchungsausschuss, der zur Verhaftung hunderter Mitglieder der Milicia führten. Die Milicia ist eine Organisation im Drogenhandel, die aus ehemaligen Polizisten besteht, und den Westen von Rio de Janeiro beherrscht.
Rechte der LGBT-Comunity
Ein wichtiges Anliegen von Marcelo Freixo sind die Rechte der LGBT-Comunity. Dagegen sehen sowohl die Igreija Universal als auch die Vereinigung evangelikaler Politiker in Brasilia Homosexualität als „Krankheit“ und setzen deren „Heilung“ auf die politische Agenda.
Bildung
Die Differenzen in der Bildungspolitik beziehen sich hauptsächlich auf das Thema „Escola sem Partido“, was soviel heißt wie „Schule ohne Parteien“. Dabei soll jegliches politische Thema nicht nur aus dem Unterricht, sondern gänzlich aus Schulen verbannt werden. Während Crivella diesen Ansatz unterstützt, setzt Freixo auf eine Pluralität der Meinungen, die die Lernenden befähigen soll, mit unterschiedlichen politischen Ansätzen umzugehen.
Gesundheit
In der Gesundheitspolitik beklagten beide den Zustand der Krankenhäuser und oft deren gänzliches Fehlen. Trotzdem sind von Crivella Äußerungen bekannt, die seine Haltung in der Gesundheitspolitik infrage stellen: Nur der Glaube zu Gott – und zwar in seiner Igreija Universal – könnte die Gesundheit gewährleisten. Und Exorzismus brächte mehr als alle Ärzte.
Sicherheit
Während sich auch beim Thema Sicherheit Crivella als Vertreter von Law and Order profilierte, setzt Freixo auf verschiedene Maßnahmen. Dazu gehören bessere Sozialprogramme und Bildung für alle Einkommensschichten. Bessere Ausbildung und Entmilitarisierung der Polizei.
Vorwürfe im Wahlkampf
Zwar bildeten die jeweiligen Wahlkampfprogramme den Grundtenor, doch mehr als sachliche Themen bestimmten gerade Schmutzkampagnen gegen Freixo den Wahlkampf.
Vorwürfe gegen Freixo
Aus seinem Eintreten gegen die Polizeigewalt leiteten sich Vorwürfe her, er würde auf der Seite der Kriminellen stehen. Auch wurde ihm zum Vorwurf gemacht, dass er Mitgliedern des Black Block einen Anwalt bezahlt hatte. Sein Eintreten für die Rechte der LGBT-Comunity führte auch zu Polemiken wie „Zwangshomosexualisierung“ und „frühkindlicher Sexualisierung“.
Ein weit problematischerer Vorwurf ergab sich aus der Verbrennung einer israelischen Fahne durch Aktivisten von Freixos Partei PSoL. Freixo hat sich aber ganz deutlich davon distanziert. Und auch von weiten Kreisen der PSoL wurde die Aktion parteiintern verurteilt.
Vorwürfe gegen Crivella
Während anfangs gegen Crivellas Pläne relativ rational argumentiert wurde, allenfalls wurde seine Verbindung zur Igreija Universal und ihrem Gründer Edir Macedo, dem Onkel Crivellas thematisiert.
Dies kippte, als der Medienkonzern O Globo Ausschnitte eines Buches ansprach, dass Crivella 2002 zunächst auf Englisch veröffentlicht hatte. Das Buch, das „Mission in Afrika“ heißt wurde von der Igreija Universal in Brasilien in Millionenauflage gedruckt und vertrieben und ist heute vergriffen.
Darin wettert Crivella mit dem Pathos eines radikalen Fundamentalisten gegen alles und alle, die nicht den Freikirchen angehören: Katholiken würden „teuflische Lehren“ verbreiten, Anhänger afrikanischer Religionen wären „der Teufel selbst“. Homosexuelle wären „vorsätzlich“ „bösartig“.
Bischof Crivella distanzierte sich zwar von dem Buch und dessen Aussagen, nicht aber von der Igreija Universal, die diese Aussagen nicht im Wortlaut, aber in ihrem Inhalt weiter trägt.
Erster Wahlgang
Im ersten Wahlgang lag Crivella bei 27 %, Freixo holte von 10 Prozent auf 18 Prozent auf. Auch wenn sich der Kandidat der PMDB nach den Umfragen noch Hoffnung auf die Stichwahl machen konnte, war die Schwäche der PMDB bei der Bürgermeisterwahl absehbar. Der Grund lag in der katastrophalen finanziellen und organisatorischen Lage in Rio de Janeiro. Ein Skandal um häusliche Gewalt des Bürgermeisterkandidaten Pedro Paulo tat sein übriges.
Die Schwäche von Jandira Fagheli und der PT beruhte allerdings nicht nur auf den Anschuldigungen gegen die PT im Fall Lava Jato und der Koalition mit Eduardo Paes, sondern auch auf der Stärke Marcelo Freixos, der sich als Anwalt der Armen und Schwachen einen Namen gemacht hatte. Trotzdem waren die etwa 4 % im ersten Wahlgang eine herbe Niederlage.
Stadtratswahl
Gleichzeitig zum ersten Wahlgang der Bürgermeisterwahlen fanden die Wahlen zum Stadtrat statt. Dort wurden entsprechend der Größe Rios 51 Sitze vergeben.
Im Gegensatz zu den schwachen Ergebnissen von Pedro Paulo erlangte die PMDB mit zehn Abgeordneten mit Abstand die meisten Sitze im Stadtrat. Zweitstärkste Kraft wurde Freixos PSoL mit sechs Sitzen. Zu beachten ist dabei auch das Abschneiden von Marielle Franco, alleinerziehende Mutter und Lehrerin, die in dem Armenviertel Maré aufgewachsen ist. Sie erhielt die zweitmeisten Stimmen von der PSoL und war auf Platz fünf aller gewählten Stadträte.
Crivellas PRB erhielt mit drei Sitzen genauso viele – oder wenige – wie die PSC von Jair Bolsonaro, dessen Sohn Flavio als Bürgermeisterkandidat antrat. Und erleichtert kann erwähnt werden, dass der Neonazi „Professor“ Marco Antonio nicht als Vereador gewählt wurde.
Zweiter Wahlgang in Rio
Analyse der Stadtviertel
Bei der Analyse der Stadtviertel zeigen sich teilweise massive Unterschiede, die so manche Rückschlüsse erlauben.
Zona Sul und Centro
Freixo gewann mit Ausnahme von Ipanema alle Stadtviertel der Südzone teilweise sehr deutlich. Dort ist das Bildungsniveau sehr hoch, und es leben dort auch viele Künstler und Intellektuelle. Auch die Wahlkreise im Zentrum Rio vielen komplett an Marcelo Freixo.
Zona Oeste – Barra und Recreio
Die reichen Stadtviertel Barra da Tijuca und Recreio gewann Crivella erstaunlich knapp, denn der Sozialist Freixo ist gerade für die Geschäftsleute und höheren Angestellten ein Rotes Tuch.
Zona Norte
Bekannt in der Zona Norte sind die riesigen Favelas Maré und Complexo Alemao. Allerdings ist auch der Rest der Zone Norte alles andere als wohlhabend. Hier gewann Crivella mit zwischen 53 % und 59 % fast durchgängig unter seinem Durchschnittsergebnis. Trotzdem ist festzustellen, dass die Linke hier, wie vielleicht überall auf der Welt ihre Klientel nicht erreicht. Dagegen sind die evangelikal-fundamentalistischen Freikirchen bei Armen und unterdurchschnittlich gebildeten Menschen außerordentlich stark.
Zona Oeste – Von Deodora bis Santa Cruz
Im Gegensatz zu Barra und Recreio sind die anderen Teile der Zona Oeste am unteren Rand der Einkommensskala. Oft handelt es sich wilde Siedlungen oder, wie der Cidade de Deus, um Sozialwohnungsbau mit dem Ziel, die Armen aus dem Zentrum zu verbannen. Besonders stark war diese Entwicklung im Vorfeld der sportlichen Großereignisse, als die Probleme der Stadt aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwinden sollten. Es zeigt sich ein ähnliches Bild wie in der Zona Norte und eigentlich wären dann auch ähnliche Wahlergebnisse zu erwarten gewesen.
Doch die Wahlergebnisse unterschieden sich signifikant von der Zona Norte. In Santa Cruz, Santissimo, Cosmos und Campo Grande lag das Ergebnis für Crivella bei über 75 %, und damit um circa zwanzig Prozentpunkte höher als in seinen stärksten Wahlkreisen der Zona Norte.
Ungültige Stimmen und Absenzen
Im ersten Wahlgang überstieg die Summe der ungültigen, weißen und nicht abgegebenen Stimmen die Summe der Stimmen für die beiden Kandidaten, die den zweiten Wahlgang erreichten. Und auch im zweiten Wahlgang gab es etwa 27 % ungültige Stimmen und über 20 % von Wählern, die der Wahl fernblieben. In Brasilien gilt eine allgemeine Wahlpflicht, allerdings sind die Sanktionen für die Abwesenheit mit umgerechnet einem Euro nicht wirklich abschreckend.
Allerdings gab es auch hier signifikante Unterschiede in den einzelnen Regionen der Stadt. Während in der Südzone der Stadt überdurchschnittlich viele den Wahlen fernblieben, gingen im Westen fast alle zur Wahl. Allerdings wählten gerade dort viele ungültig oder weiß. Ob die Sanktion von gerade einmal einem Euro dafür verantwortlich ist, ist sogar in relativ armen Vierteln zumindest fraglich.
Analyse
Der Kampf um die Armen
Die evangelikalen Kirchen sind gerade in Schichten mit niedrigem Einkommen und geringer Bildung besonders stark. 64 % der Gläubigen verdienen nicht mehr als den Mindestlohn. 42 % haben nicht einmal ein vollständige „Ensino Fundamental“, die in Brasilien eh schon schlecht ist, und über 8 % sind Analphabeten. Trotzdem hat die Partei PRB der Igreija Universal bei den Stadträten nur 3 Sitze erlangt.
Eigentlich wären sie damit die Klientel linker und progressiver Parteien, die sie aber nur schlecht erreichen. Eine Ausnahme bildete dabei der Gewerkschaftsführer und Ex-Präsident [itg-glossary glossary-id=“1025″]Lula da Silva[/itg-glossary], aber in Rio de Janeiro wohl auch die Stadträtin Marielle Franco von der PSoL.
Wer hat die Macht in Rio?
Diese Konstellation erklärt das starke Abschneiden Crivellas in der ärmeren Stadtteilen, aber nicht die Differenz von fast zwanzig Prozentpunkten zwischen Zona Norte und Zona Oeste. Dafür müssen wir uns die Stadtviertel genauer ansehen. Und es gibt vor allem einen signifikanten Unterschied: Während die Zona Norte weitgehend von Organisationen wie dem Comando Vermelho beherrscht wird, liegt der Westen, unter Kontrolle der Milicia, einer Organisation aus ehemaligen Polizisten.
Die Mafiaorganisationen haben ihre Geschäftsfelder weit über den Drogenhandel hinaus ausgeweitet. Sie beherrschen nicht nur das illegale Glücksspiel und verdienen an Schutzgeldern, sie kontrollieren damit fast jede wirtschaftliche Tätigkeiten in ihrem Einflussgebiet.
Einfluss der Drogenkartelle
Der „Frieden von Manaus“ zwischen den Mafiaorganisationen Comando Vermelho (CV), der Familia do Norte und dem Primeiro Comando da Capital (PCC) unter Vermittlung der Regierung des Bundesstaates Amazonas zeigt, dass diese Organisationen gute Verbindungen in die Politik haben und diese auch pflegen. Dagegen ist der progressive Kandidat Marcelo Freixo nach dem CPI gegen die Milicia zumindest bei dieser sicher nicht besonders beliebt.
Der unheilige Pakt
Nach Einschätzung von Amerika 21 hat die Milicia dagegen traditionell gute Beziehungen zu den evangelikalen Freikirchen. Die brasilianische Ausgabe von El Pais berichtet von Wahlkampfveranstaltungen von Crivella, die nur mit Genehmigung der Milicia stattgefunden haben könnten. Crivella selbst habe das bestätigt, allerdings mit dem Hinweis, dass alle Veranstaltung dort von der Milicia genehmigt werden müssten. Deshalb würde das für andere Parteien auch gelten.
Eine Schlüsselfigur könnte in diesem Zusammenhang die ehemalige Stadträtin Carminha Jerominho (PTdoB) spielen, deren Vater und Onkel, Jerominho ond Natalino Guimarães, bis zu ihrer Verhaftung die Milicia anführten. Sie hatte zur Unterstützung von Crivella aufgerufen, was dieser mit dem Kommentar annahm, man bedürfe jeder Stimme um zu gewinnen.
Fazit
Marcelo Crivella betonte in seinem Wahlkampf den Kampf gegen Marihuana. Im Gegensatz dazu ließ er sich von einer der einflussreichsten Organisationen im Drogenhandel unterstützen. Einen Teil, vielleicht sogar den entscheidenden Teil der Stimmen, erhielt er mit Hilfe der Milicia. An sich schon ein handfester Skandal.
Ob diese Stimmen alleine dem Aufruf von Carminha Jerominho zu verdanken sind? Wenn die Mafia dabei viel kriminellere Methoden wie Stimmenkauf oder gar Erpressung einsetzte, wäre das ein viel größerer Skandal. Dass im Gegensatz zu anderen Stadtteilen im Westen der Stadt kaum jemand den Urnen fernblieb, legt aber die Vermutung nahe, dass die Strafe von einem Euro nicht das einzige Druckmittel war.
Bildquellen
- 600px-marcelo_freixo_perfil_28903087002: Marcelo Freixo/Flickr
- foto_oficial_de_marcelo_crivella: Agência Senado
- erster-wahlgang-rio-de-janeiro: © https://klausreuss.manaus.br
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- rio-centro: © https://klausreuss.manaus.br
- largo_de_correa: © https://klausreuss.manaus.br
- analyse-der-wahl-rio-de-janeiro: © https://klausreuss.manaus.br
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