Serranía de la Lindosa – Felsmalereien und indigene Weltanschauungen
Die Felsmalereien in der Serranía de la Lindosa im kolumbianischen Amazonasgebiet sind eine Manifestation indigener Weltanschauungen und eng mit schamanistischen Praktiken verbunden. Die Kunstwerke stellen nicht einfach die „reale“ Welt dar, sondern beinhalten und manifestieren vielmehr kritisches Wissen darüber, wie animistische und perspektivische indigene Gemeinschaften ihre ritualisierten, soziokulturellen Welten konstruierten und aufrechterhielten.
Mitwirkung von indigenen Pajés
Von entscheidender Bedeutung für das Projekt und das Verständnis der Felszeichnungen in der Serranía de la Lindosa ist die Mitwirkung von indigenen Pajés (Schamanen). Ihre Perspektiven und ihr Wissen ermöglichen es, die Felsbilder nicht nur als bloße Abbildungen, sondern als Manifestationen einer lebendigen animistischen und schamanistischen Weltanschauung zu interpretieren. Die Pajés fungieren als Vermittler zwischen der sichtbaren und der spirituellen Welt und bieten Einblicke in die Bedeutung der Motive, die ohne ihr Wissen verborgen bleiben würden. Sie erklären, dass die Felsbilder von Geistern geschaffen wurden und als Speicher schamanischen Wissens dienen. Durch ihre Erzählungen und Interpretationen wird deutlich, dass die Felsmalereien nicht nur historische Artefakte sind, sondern eine aktive Rolle in der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zwischen Mensch und Natur spielen. Ihre Teilnahme an dem Forschungsprojekt ist daher nicht nur eine Geste der Inklusion, sondern eine notwendige Voraussetzung für eine authentische Interpretation der Felskunst und des damit verbundenen schamanistischen Weltbilds. Ohne die direkte Zusammenarbeit mit den indigenen Ältesten wäre es unmöglich, die tiefere Bedeutung hinter den Darstellungen zu verstehen.
Schlüsselkonzepte und ihre Darstellung in den Felsmalereien:
- Animismus und Perspektivismus: Die Felsbilder spiegeln die animistische Überzeugung wider, dass alles, was wächst, sich bewegt oder sich entwickelt, eine Seele und ein soziales Leben hat, ähnlich wie Menschen. Tiere, Pflanzen, Geister und sogar Objekte sind demnach bewusst und können Ereignisse beeinflussen. Die dargestellten Wesen sind oft nicht anatomisch korrekt, da es mehr um die vermittelte Bedeutung und die transformative Kraft der Bilder geht als um eine realistische Abbildung.
- Transformation und Verwandlung: Viele Motive stellen Therianthrope dar, Mischwesen aus Mensch und Tier, die Übergangszustände und Verwandlungen verkörpern. Diese Figuren verdeutlichen die fließenden Grenzen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Welten in animistischen Weltbildern. Schamanen werden oft als Wesen dargestellt, die zwischen verschiedenen Reichen wechseln können.
- Schamanen und Ritualspezialisten: Die Felsmalereien sind eng mit der Rolle von Ritualspezialisten verbunden, die in der Lage sind, mit der spirituellen Welt zu kommunizieren. Schamanen werden als Vermittler zwischen den Welten gesehen, die durch Rituale und veränderte Bewusstseinszustände in andere Reiche reisen, um Wissen zu erlangen und die Welt zu beeinflussen.
- Die Bedeutung von Tieren: Tiere sind nicht nur Nahrungsquellen, sondern haben eine tiefere spirituelle Bedeutung. Viele Tiere verkörpern Geist-Ahnen, insbesondere Tapire, Jaguare und Hirsche, die als besonders verehrt gelten. Schlangen, oft mit Federn oder Beinen dargestellt, sind ebenfalls wichtig, da sie als liminale Wesen angesehen werden, die sich zwischen Wasser und Land bewegen können und für Transformation und Wiedergeburt stehen.
- Geometrische Motive: Die Felsbilder enthalten auch zahlreiche geometrische Motive, deren vollständige Bedeutung nicht bekannt ist, aber vermutlich mit veränderten Bewusstseinszuständen und Ritualen verbunden ist. Einige dieser Motive ähneln Phosphenen, die in solchen Zuständen wahrgenommen werden können. Darüber hinaus werden geometrische Formen auch als „Geschenke“ von Tieren und Pflanzen angesehen.
- Felsunterstände als spirituelle Malocas: Die bemalten Felsunterstände werden von indigenen Gemeinschaften als spirituelle Malocas (Häuser) angesehen, wo Vorfahren gehört werden können.
Die Rolle von Felsbildern im Schamanismus:
- Wissensspeicher: Die Felsbilder dienen als Speicher schamanischen Wissens und leiten die Praktiken des Schamanismus. Rituelle Spezialisten nutzen die Bilder als „Kleiderschrank“ und „Anleitung“, um mit der spirituellen Welt in Kontakt zu treten und ihr Territorium zu verwalten.
- Verbindung zu den Geistern: Die Felsbilder wurden laut Aussagen indigener Ältesten von Geistern geschaffen, was die ontologische Gleichwertigkeit zwischen Ritualspezialisten und ihren Geisthelfern unterstreicht. Dies verdeutlicht die immaterielle Kraft und die rituelle Bedeutung der Bilder.
- Verhandlung mit dem „Meister der Tiere“: Die Felsmalereien werden im Kontext der Beziehungen mit dem „Meister der Tiere“ gesehen, einem Geist, der Tiere schützt und kontrolliert. Schamanen verhandeln mit diesem Geist, um Jagderfolge zu sichern. Die Jagd wird somit als ein Akt gesehen, der sowohl ideologische als auch wirtschaftliche Aspekte hat.
- Initationsrituale: Die Praktiken und Visionen, die bei Initiationsriten erlebt werden, erklären die schamanistischen Bilder auf den Felsen. Nach dem Fasten und einer Veränderung der Wahrnehmung, beginnen die Eingeweihten die Tiere sprechen zu hören und die spirituelle Bedeutung der Pflanzen und Orte zu erkennen.
- Kontinuierliche spirituelle Verbindung: Die Felsbilder sind nicht nur historische Artefakte, sondern auch Teil eines lebendigen Glaubenssystems. Sie dienen weiterhin als Quelle der Verbindung zur spirituellen Welt und als Grundlage für schamanische Praktiken.
Transformationen und der fließende Übergang
Der Übergang von einer Erscheinungsform in eine andere ist ein zentrales Thema im Text und spiegelt sich in den Felszeichnungen der Serranía de la Lindosa wider. Die Felsbilder stellen Transformationen und den fließenden Übergang zwischen verschiedenen Formen auf vielfältige Weise dar, was eng mit den animistischen und perspektivistischen Weltanschauungen der indigenen Gemeinschaften verbunden ist.
- Therianthropen: Viele Darstellungen zeigen Mischwesen aus Mensch und Tier, sogenannte Therianthropen. Diese Figuren symbolisieren die Verwandlung und den Übergang zwischen menschlichen und tierischen Zuständen. Sie verdeutlichen, dass die Grenzen zwischen diesen Kategorien in der indigenen Weltsicht nicht starr sind, sondern fließend und veränderbar.
- Verwandlung von Schamanen: Der Text betont die Rolle von Schamanen als Vermittler zwischen den Welten, die sich in andere Wesen verwandeln können, um in die spirituelle Welt zu reisen. Dies wird in den Felsmalereien oft durch die Darstellung von Therianthropen oder durch Menschen mit tierischen Attributen angedeutet. Es wird auch erwähnt, dass sich Schamanen in Jaguare verwandeln können.
- Tiere mit menschlichen Attributen: Umgekehrt werden auch Tiere mit menschlichen Eigenschaften dargestellt, was die Verbindung und Gleichwertigkeit zwischen Mensch und Tier betont. Beispielsweise haben einige menschliche Figuren tierähnliche Füße, wie Tapir- oder Hirschfüße.
- Serpenten und Transformation: Schlangen, insbesondere Anakondas, sind wichtige Symbole für Transformation und Wiedergeburt. Sie werden oft mit Federn oder Beinen dargestellt, was ihre liminale Natur und ihre Fähigkeit betont, sich zwischen verschiedenen Reichen zu bewegen. Ein Tukano-Ältester erklärte, dass die Anakonda für die Tukano viel bedeutet, da sie aus einer spirituellen Welt kamen und eine Transformation durchmachten.
- Liminale Wesen: Tiere wie Reiher und andere Wasservögel, die zwischen verschiedenen Elementen (Wasser, Land, Luft) leben, werden ebenfalls mit Transformation und Übergang in Verbindung gebracht. Ihre Darstellung mit übertriebenen Knien wird im Text als eine ikonographische Verbindung zu diesem Konzept erläutert.
- Portale: Geometrische Motive, insbesondere U-förmige Darstellungen, werden als Portale zu anderen Welten interpretiert, durch die Übergänge stattfinden können. Auch hier zeigt sich die Bedeutung des Wechsels zwischen den Welten.
- Die Rolle von „Meister der Tiere“: Der Text beschreibt den „Meister der Tiere“, der Tiere beschützt und kontrolliert, und die Rolle der Schamanen bei der Verhandlung mit diesem Geist. Dies kann als eine Vermittlung zwischen der menschlichen und der Tierwelt und damit auch eine Art von Übergang interpretiert werden.
Nachvollziehbarkeit in den Felszeichnungen:
Die oben genannten Konzepte sind in den Felszeichnungen durch eine Reihe von wiederkehrenden Motiven und Darstellungsweisen nachvollziehbar:
- Die häufige Darstellung von Therianthropen
- Menschliche Figuren mit tierischen Attributen
- Tiere, die in ungewöhnlichen Formen oder mit menschlichen Eigenschaften dargestellt werden
- Die betonte Darstellung von Schlangen, insbesondere mit Federn oder Beinen
- Die Einbindung von geometrischen Formen
- Die Darstellung von liminalen Tieren wie Wasservögeln
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Übergang von einer Erscheinungsform in eine andere ein zentrales Motiv in den Felsmalereien der Serranía de la Lindosa ist und die fluiden und transformativen Aspekte der indigenen Weltanschauungen widerspiegelt. Die Felsbilder dienen als visuelle Darstellung dieser Konzepte und als Mittel, um die komplexen Beziehungen zwischen Mensch, Tier und spirituellen Welten zu verstehen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Felsbilder in der Serranía de la Lindosa eine vielschichtige Darstellung des schamanistischen Weltbilds der indigenen Völker des Amazonasgebietes sind. Sie sind nicht nur Kunstwerke, sondern auch mächtige Werkzeuge zur Wissensbewahrung, zur Kommunikation mit der spirituellen Welt und zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zwischen Mensch und Natur.
Quellen
- Hampson, Jamie, José Iriarte, and Francisco Javier Aceituno. 2024. ‚A World of Knowledge‘: Rock Art, Ritual, and Indigenous Belief at Serranía De La Lindosa in the Colombian Amazon. Arts 13: 135. https://doi.org/10.3390/arts13040135 Copyright: © 2024 by the authors. Submitted for possible open access publication under the terms and conditions of the Creative CommonsAttribution (CC BY) license (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/).








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