Carajás und der Mythos der unberührten Wildnis
Der Amazonasregenwald fasziniert die Menschheit seit Jahrhunderten. Oft wird er als unberührtes Paradies dargestellt, als letzter Zufluchtsort einer von der Zivilisation unberührten Natur. Doch neue archäologische Erkenntnisse aus der Region Carajás im brasilianischen Bundesstaat Pará zeichnen ein ganz anderes Bild. Sie enthüllen eine jahrtausendealte Geschichte menschlicher Besiedlung und Interaktion mit der Umwelt, die unser Verständnis vom Amazonas grundlegend verändert.
Die ersten Siedler von Carajás
Die Geschichte der menschlichen Besiedlung in Carajás reicht erstaunlich weit zurück. Archäologische Funde belegen eine Präsenz von Menschen in der Region, die mindestens 11.000 Jahre alt ist. Besonders bemerkenswert ist eine Abfolge von Besiedlungsspuren im Südosten von Pará, die bis zu 9.000 Jahre zurückreichen. Diese Entdeckungen werfen ein neues Licht auf die frühe Menschheitsgeschichte im Amazonasbecken.
Die frühesten Bewohner von Carajás gehörten zur sogenannten „Cultura Tropical“. Es handelte sich um nomadische Jäger und Sammler, die die reichen Ressourcen der Wälder und Flüsse nutzten. Sie lebten in einer Zeit wichtiger klimatischer Veränderungen und passten sich geschickt an ihre Umgebung an. Ihre Lebensweise war geprägt von einer geringen Bevölkerungsdichte und der Nutzung natürlicher Schutzräume wie Höhlen und Abris.
Doch selbst in dieser frühen Phase begannen die Menschen bereits, ihre Umwelt zu beeinflussen. Analysen von Pflanzenresten deuten darauf hin, dass schon vor Tausenden von Jahren eine gezielte Auswahl und Nutzung bestimmter Pflanzenarten stattfand. Dies markiert den Beginn einer langen Geschichte der Mensch-Umwelt-Interaktion im Amazonasgebiet.
Von Jägern und Sammlern zu sesshaften Ackerbauern
Im Laufe der Zeit vollzog sich in Carajás ein bedeutender kultureller Wandel. Die nomadischen Jäger und Sammler der „Cultura Tropical“ wurden allmählich von sesshaften Ackerbauern abgelöst, die zur „Cultura Neotropical“ gehörten. Dieser Übergang markierte einen Wendepunkt in der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt in der Region.
Die Einführung des Ackerbaus führte zu einer intensiveren Nutzung und Veränderung der Landschaft. Die Menschen begannen, Pflanzen systematisch anzubauen und zu domestizieren. Ein faszinierender Fund aus dieser Zeit sind verkohlte Samen von Manihot sp. (Maniok), die in den Grutas do Gavião und do Pequiá gefunden und auf ein Alter von über 5000 Jahren datiert wurden. Diese Entdeckung deutet darauf hin, dass die Bewohner von Carajás bereits lange vor der Entwicklung einer ausgereiften Landwirtschaft mit der Kultivierung von Pflanzen experimentierten.
Trotz des Übergangs zur Sesshaftigkeit blieb die Nutzung von Höhlen und Abris als Wohnstätten bestehen, wie archäologische Funde in der Serra Sul und Serra Norte von Carajás belegen. Dies zeigt, wie die Menschen traditionelle Lebensweisen mit neuen Technologien und Praktiken kombinierten.
Die Domestizierung der Landschaft
Eine wichtige Erkenntnisse aus Carajás ist die Idee der „Domestizierung der Landschaft“. Lange bevor systematische Landwirtschaft betrieben wurde, begannen die Bewohner Amazoniens, ihre Umgebung aktiv zu gestalten. Schon die frühen Jäger und Sammler der „Cultura Tropical“ spielten eine entscheidende Rolle bei der Formung der Waldlandschaften.
Diese frühen Bewohner waren keineswegs passive Nutzer ihrer Umwelt. Stattdessen entwickelten sie ein tiefes Verständnis für die Ökologie des Waldes und begannen, dieses Wissen anzuwenden, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Sie verbreiteten und pflegten gezielt nützliche Pflanzenarten, insbesondere Bäume, die Nahrung, Medizin oder andere wichtige Ressourcen lieferten.
Dieser Prozess der selektiven Förderung bestimmter Arten führte im Laufe der Zeit zur Entstehung sogenannter „anthropogener Wälder“. Diese Waldlandschaften erscheinen auf den ersten Blick natürlich, sind aber in Wirklichkeit das Ergebnis jahrhunderte- oder sogar jahrtausendelanger menschlicher Eingriffe. Die Jäger und Sammler reicherten den Wald systematisch mit Pflanzen an, die für sie von Nutzen waren – sei es für Nahrung, Medizin, Baumaterial oder rituelle Zwecke.
Anthropogene Wälder
Ein Beispiel für diese frühe Form der Waldgestaltung ist die gezielte Verbreitung von Fruchtbäumen. Indem sie die Samen bestimmter Baumarten an günstigen Standorten ausstreuten oder junge Pflanzen schützten und pflegten, erhöhten die frühen Bewohner die Konzentration dieser Arten in bestimmten Gebieten. Dies führte zur Entstehung von „Waldgärten“, die eine höhere Dichte an Nutzpflanzen aufwiesen als der umgebende „natürliche“ Wald.
Auch die Praxis des kontrollierten Brennens spielte wahrscheinlich eine Rolle bei der Gestaltung der Waldlandschaften. Durch gezieltes Abbrennen kleiner Flächen schufen die Jäger und Sammler Lichtungen, die das Wachstum bestimmter Pflanzenarten begünstigten und gleichzeitig neue Jagdgründe eröffneten.
Die Auswirkungen dieser frühen Waldgestaltung waren tiefgreifend und langanhaltend. Die von Menschen beeinflussten Wälder wiesen oft eine höhere Biodiversität auf als unberührte Gebiete, da die selektive Förderung bestimmter Arten neue ökologische Nischen schuf und die Artenvielfalt erhöhte. Gleichzeitig spiegelte die Zusammensetzung dieser Wälder die kulturellen Präferenzen und das ökologische Wissen der indigenen Gruppen wider.
Koevolution zwischen Mensch und Wald
Es ist wichtig zu betonen, dass diese Form der Waldgestaltung nicht mit der großflächigen Abholzung oder Monokultur der modernen Zeit zu verwechseln ist. Die frühen Bewohner Amazoniens arbeiteten innerhalb der natürlichen Ökosysteme und verstärkten deren Produktivität, ohne ihre grundlegende Struktur zu zerstören. Ihr Ansatz kann eher als eine Form der Koevolution zwischen Mensch und Wald verstanden werden.
Die Erforschung dieser anthropogenen Wälder in Carajás und anderen Teilen Amazoniens hat unser Verständnis von der Rolle des Menschen in tropischen Ökosystemen revolutioniert. Sie zeigt, dass die Grenze zwischen „Natur“ und „Kultur“ in Amazonien schon immer fließend war und dass die heutige Biodiversität des Regenwaldes zum Teil ein Erbe dieser jahrtausendelangen Mensch-Umwelt-Interaktion ist.
Beginn der Landwirtschaft
Funde z.B. von Maniok aus der Zeit von über 5000 Jahren deuten darauf hin, dass die frühen Bewohner von Carajás bereits vor der Einführung des systematischen Ackerbaus Erfahrungen mit der Nutzung und Kultivierung von Pflanzen gemacht haben könnten.
Der Beitrag zur Biodiversität
Eine der überraschendsten Erkenntnisse aus der Forschung in Carajás und anderen Teilen Amazoniens ist die Erkenntnis, dass die menschliche Präsenz zur Erhöhung der Biodiversität beigetragen haben könnte. Die selektive Förderung bestimmter Pflanzenarten, die Schaffung neuer Lebensräume durch Landwirtschaft und die Verbreitung von Samen durch menschliche Aktivitäten führten zur Entstehung vielfältiger Kulturlandschaften.
Diese Erkenntnis stellt die traditionelle Vorstellung von „Naturschutz“ auf den Kopf. Anstatt die menschliche Präsenz als Bedrohung für die Biodiversität zu sehen, zeigen die Forschungen in Carajás, dass eine nachhaltige menschliche Interaktion mit der Umwelt diese sogar bereichern kann.
Terra Preta – Der schwarze Boden Amazoniens
Ein weiterer, und schon bekannterer Beweis für den langfristigen menschlichen Einfluss in Amazonien ist die Präsenz von Terra Preta, einem besonders fruchtbaren, dunklen Boden. Terra Preta entstand durch die Anhäufung von organischen Abfällen, Holzkohle und anderen Materialien, die von den indigenen Bewohnern über Jahrhunderte hinweg eingebracht wurden.
Die Entstehung von Terra Preta ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Fähigkeit der frühen Amazonasbewohner, ihre Umwelt nachhaltig zu verändern und zu verbessern. Dieser nährstoffreiche Boden ermöglichte eine intensivere Landwirtschaft und trug zur Erhöhung der Biodiversität bei. Die weite Verbreitung von Terra Preta in Amazonien unterstreicht das Ausmaß des menschlichen Einflusses auf die Umwelt in präkolumbischer Zeit.
Kulturelle Prägung der Landschaft
Die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt in Amazonien war nicht nur von praktischen Überlegungen geprägt, sondern hatte auch eine tiefe kulturelle und spirituelle Dimension. Die Auswahl der Pflanzen, die Gestaltung von Gärten und die Lage von Siedlungen spiegelten oft kosmologische Vorstellungen und soziale Strukturen wider.
Bestimmte Pflanzenarten wurden mit Ahnen oder Geistern assoziiert und an besonderen Orten kultiviert. Die Landschaft wurde so zu einem lebendigen Ausdruck der Weltanschauung und des kulturellen Erbes der indigenen Gruppen. Diese kulturelle Prägung der Umwelt zeigt, wie eng Natur und Kultur in der Vorstellung der Amazonasbewohner miteinander verwoben waren.
Der Mythos des unberührten Amazonas
Die Erkenntnisse aus Carajás und anderen archäologischen Stätten in Amazonien widerlegen eindeutig den Mythos eines unberührten Amazonasregenwaldes. Der Wald, wie wir ihn heute kennen, ist nicht nur das Ergebnis natürlicher Prozesse, sondern auch das Produkt jahrtausendelanger menschlicher Einflussnahme.
Diese Erkenntnis hat wichtige Implikationen für unser Verständnis von Naturschutz und nachhaltiger Entwicklung in Amazonien. Sie zeigt, dass der Mensch nicht zwangsläufig ein Störfaktor in Ökosystemen sein muss, sondern bei nachhaltiger Lebensweise sogar zu deren Bereicherung beitragen kann.
Ein neuer Blick auf Amazonien
Die archäologischen Entdeckungen in Carajás zwingen uns, unsere Sichtweise auf den Amazonasregenwald grundlegend zu überdenken. Was oft als unberührte Wildnis dargestellt wird, erweist sich bei näherer Betrachtung als eine vom Menschen geprägte Landschaft mit einer reichen und komplexen Geschichte.
Diese Erkenntnis sollte jedoch nicht als Rechtfertigung für die heutige Zerstörung des Regenwaldes missverstanden werden. Vielmehr zeigt sie uns, dass ein nachhaltiges Zusammenleben von Mensch und Natur in Amazonien möglich ist – eine Lektion, die wir von den indigenen Kulturen der Region lernen können.
Die Geschichte von Carajás lehrt uns, den Amazonasregenwald nicht als statisches Naturreservat zu betrachten, sondern als dynamisches System, in dem Mensch und Natur seit Jahrtausenden in Wechselwirkung stehen. Diese Perspektive eröffnet neue Möglichkeiten für den Schutz und die nachhaltige Nutzung dieses einzigartigen Ökosystems.
Indem wir die verborgene Geschichte des Amazonas ans Licht bringen, gewinnen wir nicht nur ein tieferes Verständnis für die Vergangenheit, sondern auch wertvolle Einsichten für eine nachhaltige Zukunft dieser einzigartigen Region.
Quellen
- Marcos Pereira Magalhães (Hrsg): Amazônia Antropogênica, Belém: Museu Paraense Emílio Goeldi, 2016
- Marcos Pereira Magalhães (Hrsg): A Humanidade e a Amazonia – 11 mil anos de evolução historica em Carajás, Belém: Museu Paraense Emílio Goeldi, 2018
- Eduardo Neves Goes: Sob os tempos do equinócio: Oito mil anos de história na Amazônia central, Ubo Editora, 2022
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