Das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff
Zuerst veröffentlicht am 13.4.2016. Aktualisiert und erweitert am 7.9.
Am 31.08.2016 entschied der brasilianische Senat die Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Rousseffs. Der Interimspräsident Michel Temer wurde kurz darauf als 37. Präsident Brasiliens vereidigt. War es eine demokratischer Akt oder ein „kalter Putsch“? Im Gegensatz zu Deutschland gibt es in Brasilien kein Konstruktives Misstrauensvotum. Das Impeachment ist laut Verfassung ein juristischer Akt und keine politische Wahl.
Schon seit der Wiederwahl von Dilma Rousseff wollte sich die Opposition nicht abfinden. Von Dezember 2015 bis August 2016 haben sich dann immer wieder die Ereignisse überschlagen. Deshalb scheint es sinnvoll, noch einmal den Ablauf zu rekapitulieren.
Ein Rückblick auf die Ereignisse
Eine Wahl ist eine Wahl. Oder auch nicht?
Bei den Wahlen 2014 erreichte [itg-tooltip href=“https://klausreuss.de/de/glossary/dilma-rousseff“ tooltip-content=“<p>Dilma Vana Rousseff; geb. 14.12.1947 in Belo Horizonte (MG); Politikerin (PT) und Ökonomin; von 2012 bis 2016 Staatspräsidentin und Nachfolgerin von Luiz Ignazio Lula da Silva.</p>“]Dilma Rousseff[/itg-tooltip] im ersten Wahlgang etwas über 41 Prozent vor [itg-tooltip href=“https://klausreuss.de/de/glossary/aecio-neves“ tooltip-content=“<p>Aécio Neves da Cunha; geb. 10.03.1960; Ökonom und Politiker (PSDB); Präsidentschaftskandidat 2014; Gouverneur von Minas Gerais 2003 bis 2010, Senator von 2011 bis 2017; vom STF des Amtes enthoben.</p>“]Aecio Neves[/itg-tooltip], der sich etwa 33 Prozent überraschend vor der evangelikalen Marina Silva mit 21 Prozent abschnitt und damit den zweiten Wahlgang erreichte. Den zweiten Wahlgang entschied dann Dilma Rousseff für sich. Die rechts-konservative Opposition wollte sich mit dem Ergebnis der Wahl nicht abfinden und forderte schon nach Auszählung der Stimmen einen Rücktritt bzw. eine Amtsenthebung der wiedergewählten Präsidentin.
Im Gegensatz zur Wahl zur Präsidentin hatte Rousseffs Partei PT bei den Parlamentswahlen im brasilianische Vielparteiensystem keine Mehrheit. Und so regierte eine Koalitionsregierung, deren stärkste Partei die PMDB von Rousseffs Vizepräsidenten [itg-tooltip href=“https://klausreuss.de/de/glossary/michel-temer“ tooltip-content=“<p>Michel Miguel Elias Temer Lulia; geb. 23.09.1940 in Tietê (SP); Politiker (PMDB) und Rechtsanwalt. Von Mai bis August 2016 Übergangspräsident, seit September 2016 offiziell Staatspräsident.</p>“]Michel Temer[/itg-tooltip] war.
Im April traf sich der unterlegene Kandidat Aecio Neves mit Anführern der Bewegung „Vem pra Rua“ (Kommt auf die Straße!), die viele der Proteste gegen Rousseff organisierte. Etwa zur gleichen Zeit schloss sich die Bewegung „Movimento Intervencoa“ den Protesten an, trat offen für einen Militärputsch ein und feierte die Inhaftierung Lulas und Rousseffs während der Militärdiktatur. In einem Interview bestritten Anführer der Bewegung, dass es in Brasilien jemals eine Militärdiktatur gegeben hat.
Die Einleitung des Impeachmentverfahrens
2015 bereitete die Opposition mit der Anwältin und evangelikalen Pastorin Janaina Paschoal dann das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff vor. Im Dezember brachte die Opposition das Amtsenthebungsverfahren ins Parlament ein. Obwohl sich mehrere Parteien die Teilnahme verweigerten, ließ der Präsident des Abgeordnetenhauses [itg-tooltip href=“https://klausreuss.de/de/glossary/eduardo-cunha“ tooltip-content=“<p>Eduardo Cosentino da Cunha; geb. 29.09.1958 in Rio de Janeiro (RJ); Ökonom und Politiker (PMDB); Präsident des Abgeordnetenhauses Februar 2015 bis Juni 2016; Am 30.03.2027 wurde er zu 15 Jahren und vier Monaten Gefängnis wegen Passiver Korruption, Geldwäsche und Devisenschmuggels verurteilt.</p>“]Eduardo Cunha[/itg-tooltip] (PMDB) über das Verfahren abstimmen und annehmen. Gegen Cunha wurde schon zu diesem Zeitpunkt wegen Korruption und Geldwäsche ermittelt. Und so entwickelte sich das Verfahren zu einem Wettlauf, wer zuerst den anderen absetzen könnte um sich selbst zu retten.
Im März und April 2016 spitzte sich die Lage dann zu. In Brasilien haben sich im Frühjahr und Sommer 2016 immer wieder die Ereignisse überschlagen, und auch einiges ist auch in die deutschen Medien vorgedrungen.
Mitte März sorgte der Untersuchungsrichter [itg-tooltip href=“https://klausreuss.de/de/glossary/sergio-moro“ tooltip-content=“<p>Sérgio Fernando Moro; geb. 01.08.1972 in Maringá (PR), Jurist; Richter am TRF-4, zuständig für Angeklagte des Komplexes Lava Jato, die nicht dem Foro Especial unterliegen.</p>“]Sergio Moro[/itg-tooltip], der die Untersuchungen im Fall „Lava Jato“ leitet, für einen Paukenschlag. Im Rahmen einer Razzia ließ er den brasilianischen Ex-Präsidenten[itg-tooltip href=“https://klausreuss.de/de/glossary/lula-da-silva“ tooltip-content=“<p>Luiz Inácio Lula da Silva, bekannt unter dem Namen Lula; geb. 27.10.1945 in Caetes (PA); Politiker (PT), Gewerkschaftsführer; von 2003 -2011 Staatspräsident.</p>“] Lula [/itg-tooltip]festnehmen und mit einem Polizeikonvoi zu einem dreistündigen Verhör bringen. Ein Vorgehen, das zumindest ungewöhnlich ist! Weder handelte es sich um schwerwiegende Vorwürfe noch hatte Lula eine Vorladung abgelehnt oder versäumt. Die offizielle Begründung war dann auch, dass eine Vorladung zu Demonstrationen hätte führen können.
Ein Schelm, wer böses dabei denkt: Denn diese Maßnahme Moros fand im Vorfeld von geplanten Großdemonstrationen gegen Dilma Rousseff und die Regierungspartei PT statt, der auch Dilmas Vorgänger Lula angehört. Aufgerufen hatten unter anderem Oppositionsparteien wie die PSDB des 2014 unterlegenen Präsidentschaftskandidaten Aecio Neves. Der steht selbst massiv unter Korruptionsverdacht, und wurde in Sao Paulo auch von einigen Gruppen feindselig behandelt und aus der Demonstration vertrieben. Bejubelt wurden dagegen der evangelikale Pastor [itg-tooltip href=“https://klausreuss.de/de/glossary/silas-malafaia“ tooltip-content=“<p>Silas Lima Malafaia; geb. 14.09.1958 in Rio de Janeiro (RJ); evangelikaler Pastor des MinisterioVitória em Cristo, das zur Assembleia de Deus gehört. Im Dezember 2016 wegen des Verdachts der Geldwäsche vorläufig festgenommen.</p>“]Silas Malafaias[/itg-tooltip] und der Rechtsextreme [itg-tooltip href=“https://klausreuss.de/de/glossary/jair-bolsonaro“ tooltip-content=“<p>Politiker (PSC) und Militär der Reserve, geboren 21.03.1955 in Campinas (SP), seit 1991 Abgeordneter. Vertritt rassistische und homophobe Positionen. Tritt für einen Militärputsch ein.</p>“]Jair Bolsonaro[/itg-tooltip], die Brasilia zusammen auftraten. In Brasilia auch von den Organisatoren angekündigt, aber nicht erschienen war der evangelikale Pastor[itg-tooltip href=“https://klausreuss.de/de/glossary/marco-feliciano“ tooltip-content=“<p>Marco Antônio Feliciano; geb. 12.10.1972 in Orlândia (SP); evangelikaler Pastor der Catedral do Avivamento, die zur Assembleia de Deus gehört, und Politiker (PSC); Abgeordneter seit 2010 und Fraktionsführer der PSC. Bekannt für radikal homophobe Aussagen.</p>“] Marcio Feliciano[/itg-tooltip].
Kurz nach den Demonstrationen holte Dilma Rousseff ihren Vorgänger Lula als Kabinettschef in ihre Regierung. Von regierungskritischer Seite wird der Vorwurf erhoben, damit Lula gegen Ermittlungen der Justiz schützen zu wollen. Ermittlungen gegen ein Regierungsmitglied sind jedoch möglich, wenn auch nur auf Ebene des obersten Gerichtshofs STF. Lula wäre tatsächlich ein wenig geschützt, wenn auch nicht vor Ermittlungen, so doch vor Willkürmaßnahmen auf unterer Ebene von oft sich widersprechenden Gerichten, wie das zum Beispiel in den Fällen des Kraftwerks Belo Monte oder des alten Museo do Indio an der Tagesordnung war. Oft hatten interessierte Parteien fast gleichzeitig gegenteilige Verfügungen bei verschiedenen Gerichten erwirkt..
Auch wenn, wie gesagt, Ermittlungen gegen ein Regierungsmitglied möglich sind, hat doch ein Bundesrichter die Ernennung Lulas wegen der laufenden Ermittlungen suspendiert. Andererseits wurde diesem Richter wieder vorgeworfen befangen zu sein, denn er unterstützte schon lange eine Amtsenthebung Dilmas, zum Beispiel mit Posts auf Facebook von Teilnahmen an Demonstrationen auf Seite der Opposition. Nach Bekanntwerden dieser Vorwürfe war seine Facebookseite nicht mehr erreichbar. Die Ernennung Lulas zum Kabinettschef beziehungsweise ihre Suspendierung musste jetzt durch den Obersten Gerichtshof entschieden werden. Schließlich blockierte der Richter [itg-tooltip href=“https://klausreuss.de/de/glossary/gilmar-mendes“ tooltip-content=“<p>Gilmar Ferreira Mendes; geb. 30.12.1955 in Diamantino (MT); Jurist, Richter am Obersten Gerichtshof seit 2003, Präsident des TSE, Präsident des STF 2008 und 2910, Generalstaatsanwalt 2000 bis 2002.</p>“]Gilmar Mendes[/itg-tooltip] Lulas Ernennung.
Waren diese Entscheidung und die vorläufige Verhaftung möglicherweise rechtlich noch vertretbar, sieht das bei einem weiteren Vorgehen Sergio Moros aller Wahrscheinlichkeit nicht mehr so. Er ordnete nicht nur das Abhören eines Telefongesprächs der amtierenden Staatspräsidentin Dilma Roussef an, sondern verfügte auch die Veröffentlichung der Mitschnitte. Wäre schon allein das Abhören eines Telefongesprächs ohne hinreichenden Verdacht äußerst fragwürdig, kann ein solches Vorgehen nur vom Obersten Gerichtshof autorisiert werden, sobald ein Mitglied der Regierung betroffen ist.
Vom Bruch der Koalition zur Suspendierung Dilmas
Ende März kündigte Vizepräsident Michel Temer die Koalition mit Dilma Rousseff und zog die Minister seiner PMDB aus dem Kabinett ab. Von da ab unterstützte die PMDB das Impeachment gegen Dilma Rousseff.
Im April stimmte dann die von Cunha eingesetzte Kommission aus Parlamentariern für die Annahme des Amtsenthebungsverfahrens und seine Weiterleitung an das Abgeordnetenhaus. Mehr als eine Randnotiz ist, dass gegen 40 der 60 Mitglieder der Kommission selbst wegen Korruption ermittelt wurde.
Jetzt lag die Entscheidung wieder beim Abgeordnetenhaus. Unter Leitung von Eduardo Cunha zeigte Debatte allerdings, dass es nicht um ein juristisches Verfahren drehte, sondern um eine politische Machtdemonstration gerade von evangelikaler Seite. Statt auf juristische Aspekte einzugehen, redeten die Abgeordneten von Gott, Bibel und Familie. Im Nachhinein allerdings erklärbar durch eine kolportierte Aussage der Anwältin und Pastorin Janaina Paschoal beim Abschluss des Verfahrens: „Ein Impeachment ohne Gott ist ein Putsch.“ Leider steht davon aber nichts in der Verfassung. Am 17. April entschied eine Mehrheit von 342 zu 137, das Verfahren an den Senat weiterzuleiten.
Am 9. Mai wurde der Präsident des Abgeordnetenhauses, Eduardo Cunha, vom Obersten Gericht aus allen politischen Ämtern entfernt. Sein provisorischer Nachfolger wurde Waldir Maranhao, der die Abstimmung vom 17. April annullierte. Auf massiven Druck des Senatspräsidenten Renan Calheiros (PMDB) und der Parteispitze der PP nahm er am folgenden Tag die Annullierung wieder zurück. Auch der Oberste Gerichtshof sah keine Bedenken bezüglich der Gültigkeit, da die Entscheidung selbst im Parlament eine große Mehrheit hatte. Am 11. Mai entschied der Senat mit der nötigen 2/3 Mehrheit für die Eröffnung des Impeachments und damit für eine Suspendierung Dilmas für bis zu 180 Tagen.
Durch die Suspendierung Dilmas wurde Vizepräsident Temer automatisch Interimspräsident. Am gleichen Tag stellte das Oberste Gericht die Untersuchungen wegen Korruption und Geldwäsche gegen den Senator und designierten Landwirtschaftsminister[itg-tooltip href=“https://klausreuss.de/de/glossary/blairo-maggi“ tooltip-content=“<p>Blairo Borges Maggi, geb. 29.05.1956 in Torres (RS); Agronom, Großgrundbesitzer, Politiker (PP); Landwirtschaftsminister der Regierung Michel Temer. Von 2003 bis 2010 Gouverneur von Mato Grosso. Von 2011 bis 2016 Senator.</p>“] Blairo Maggi[/itg-tooltip] ein.
Die Interimsregierung Temer – Fehlstart nach Maß
Eine der ersten Maßnahmen Temers war die Auflösung des Kulturministerium MinC und die Eingliederung der Kultur auf Ebene eines Staatssekretärs in das Erziehungsministerium. Für alle dafür möglichen Personalien erhielt er jedoch – teilweise öffentliche und drastische – Absagen. Schon nach einer Woche musste er die Entscheidung auch auf Druck der an seiner Koalition beteiligten Parteien
Obwohl das Kulturministerium nominell also wieder existierte, war der Bereich Kultur doch von massiven Kürzungen betroffen. Schon nach der Abschaffung des MinC hatten Künstler, Kreative und Kulturschaffende in fast allen großen Städten Einrichtungen des MinC besetzt und leistete kreativen Widerstand. Zum Beispiel im Palácio Gustavo Capanema veranstaltete Ocupa MinC Rio de Janeiro täglich Ausstellungen, Theateraufführungen, Konzerte und Workshops sowie Diskussionen zu Themen wie Armut und Benachteiligung.
Schon nach vier Tagen musste Tourismusminister Alves wegen Verstrickungen in die Korruptionsaffäre Lava Jato zurücktreten. Nach etwas mehr als einer Woche, genau nach elf Tagen, musste der Minister für Planung [itg-tooltip href=“https://klausreuss.de/de/glossary/romero-juca“ tooltip-content=“<p>Romero Jucá Filho, kurz Romero Jucá; geb. 30.11.1954; Recife (PE); Ökonom und Politiker (PMDB); Senator, 12.05. bis 23.05.2015 Minister für Planung, Minister für soziale Vorsorge unter Lula.</p>“]Romero Juca[/itg-tooltip] zurücktreten. Mitschnitte eines Gesprächs belegten die Vermutung, dass die Absetzung Dilmas nötig war, um die Ermittlung wegen Korruption gegen ihn und Parteifreunde beenden zu können. Noch eine Woche später erwischte es den Minister für Transparenz (sic!), der dafür eingetreten war, die Verteidigung von angeklagten Parteifreunden aus Staatsmitteln zu bestreiten.
Erst im Nachhinein wird bekannt, dass Interimspräsident Temer am 03. Mai 2016, wenige Tage vor seiner Amtsübernahme, das passive Wahlrecht für acht Jahre entzogen worden war. Wegen illegaler Finanzierung des Wahlkampfs von Parteifreunden war Temer in Sao Paulo verurteilt worden. So erscheint auch seine Äußerung in einem anderen Licht, er werde 2018 nicht zur Wiederwahl antreten.
Am 14. Juli stellte die Generalstaatsanwaltschaft des Distrito Federal in Brasilia fest, dass die Vorgehensweise der Regierung Dilma in Haushaltsfragen kein Verbrechen darstelle, und forderte die Einstellung des Verfahrens
Am 16. Juli musste dann der ausführende Präsident des Abgeordnetenhauses Waldir Maranhao zurücktreten. Gegen Maranhao wird in den Korruptionsfällen Operacao Miqueias und Lava Jato ermittelt. Außerdem soll er als nicht existierender Angestellter der Universität von Maranhao monatlich 16.000 (umgerechnet über 4.000 €) erhalten haben.
Nachfolger Maranhaos wurde[itg-tooltip href=“https://klausreuss.de/de/glossary/rodrigo-maia“ tooltip-content=“<p>Rodrigo Felinto Ibarra Epitácio Maia; 12.06,1970 in Santiago do Chile (Chile); Politiker (DEM); Abgeordneter seit 1999 Abgeordneter, seit August 2016 Präsident des Abegeordnetenhauses. Hält schwarze Kassen bei der Wahlkampffinanzierung für rechtens.</p>“] Rodrigo Maia[/itg-tooltip]. Sein Verhältnis zur Korruption klärte er schnell, indem er feststellte, dass Verstöße gegen Wahlkampf- und Parteienfinanzierung für ihn keine Korruption darstellten. Im Fall Lava Jato taucht sein Name zwar auf, jedoch wird nicht offiziel gegen ihn ermittelt. Allerdings steht sein Name auch auf der Lista Furnas, in der es um illegale Wahlkampffinanzierung geht. (sic!)
Am 31. August entschied der Senat mit 61 zu 20 Stimmen für die Amtsenthebung Dilma Rousseffs. Damit wurde die nötige 54 um 8 Stimmen übertroffen. Von den 13 Senatoren, gegen die Ermittlungen im Fall Lava Jato liefen, stimmten zehn für die Absetzung Dilmas und drei dagegen.
Am 2. September dann verabschiedete Die neue Regierung ein Gesetz, das die Haushaltricks legalisierte, für die Dilma Rousseff abgesetzt wurde.
Die Geschichte der Demostrationen
Seit 2013 gehen in Brasilien die Menschen auf die Straße. Zunächst protestierten in Rio de Janeiro wenige hundert Menschen gegen die Räumung des indigenen Kulturzentrums Aldeia Maracana im alten Museu do Indio und der Schule Friedensreich im Zuge des Umbaus des Stadions Maracana. Nach Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr weiteten sich die Proteste zu einer landesweiten Bewegung aus. Zu der Preiserhöhung kamen bald die Themen Bildung und Gesundheit.
Doch auch rechte Gruppe bemächtigten sich der Demonstrationen. Vertreter von Gewerkschaften, sozialer Bewegungen wie der MST und Parteien wurden aus den Demonstrationen gedrängt. Eine Hauptforderung wurde die Innere Sicherheit. Gegen Kritiker überharter Polizeimaßnahmen wurden im Internet regelrechte Hasskampagnen gestartet. Und bald machte sich die Forderung breit, das Alter für Erwachsenenstrafrecht und Strafmündigkeit drastisch herabzusetzen.
Schon direkt nach der Wahl im Herbst 2014 begannen die Oppositionsgruppen eine Amtsenthebung der wiedergewählten Gruppen zu fordern und im April trafen sich Abführer der Proteste mit dem unterlegenen Oppositionskandidaten Aecio Neves. Gleichzeit traten aber auch Gruppen auf den Plan, die offen einen Militärputsch forderten.
Im Internet verbreiteten sich Texte, die Brasilien als „kommunistische Diktatur“ bezeichneten. Auf Nachfrage kam dann immer der gleiche Text, der mit Definitionen von Kommunismus und Diktatur nichts zu tun haben, und etwa den Polemiken der US-Amerikanische Teaparty zu „Obamacare“ entsprechen. Auch die Einstellung vieler Anhänger dieser Denkart lässt einige Fragen offen: Einige leugnen, dass es in Brasilien eine Militärdiktatur gegeben hat, andere fordern, dass Brasilien „einen wie Pinochet“ bräuchte!
Das politische System Brasilien
Brasilien ist eine Bundesrepublik und besteht aus 26 Bundesstaaten. Das politische System ist ähnlich dem in den USA. Der Präsident beziehungsweise die Präsidentin wird direkt vom Volk gewählt. Das Parlament besteht aus zwei Kammern. Dem Senat und dem Abgeordnetenhaus. Doch im Gegensatz zu den USA sind im Parlament zahlreiche Parteien vertreten, von denen keine auch nur in die Nähe einer absoluten Mehrheit gelangt. Die größten im Parlament vertretenen Parteien sind die PMDB, die mit Eduardo Cunha den Präsidenten der Abgeordnetenkammer, die Arbeiterpartei PT der Präsidentin Dilma Roussef, die PSDB des bei den Wahlen 2014 unterlegenen Kandidaten Aecio Neves und die rechte PP, der bis vor Kurzem Jair Bolsonaro angehörte. Außerdem sind etliche kleine Parteien und auch unabhängige Abgeordnete vertreten. Die meisten Parteien lassen sich einer Bacanda, einem Block, zurechnen, wie der Bacanda Ruralista, die die Interessen der Großgrundbesitzern und Agro-Industrie vertritt, oder Bacanda Biblia, die das Sprachrohr der in Brasilien sehr starken evangelikalen Freikirchen ist.
Wichtige Personen beim Impeachment gegen Dilma Rousseff
Die wohl wichtigste Person der letzten Jahre in der brasilianischen Politik ist immer noch der Ex-Präsident Lula. Und obwohl Korruptionsfälle einen Schatten auf seine Regierungszeit werfen, ist anzumerken, dass die Antikorruptionsgesetze, die jetzt zur Aufklärung so mancher Skandale führen, aus seiner Regierungszeit stammen.
Die abgesetzte Staatspräsidentin Dilma Roussef war Ministerin unter Lula und wie dieser während der Militärdiktatur inhaftiert. Gegen Rousseff werden keine Korruptionsvorwürfe erhoben. Sie regierte eine Koalitionsregierung, deren stärkste Partei die PMDB war.
Vizepräsident war Michel Temer von Dilma Rousseffs Koalitionspartner PMDB. Aufgrund des Erfolgs des Amtsenthebungsverfahrens wurde er zunächst Interimspräsident und offiziell 37. Präsident des Staates. Im Mai 2016 wurde ihm von der Wahlkommission in Sao Paulo wegen illegaler Spenden zur Finanzierung von Wahlkämpfen in Sao Paulo und Rio Grande de Sul das passive Wahlrecht entzogen.
Eduardo Cunha, ebenfalls von der PMDB, war Präsident des Abgeordnetenhauses und Antreiber des Amtsenthebungsverfahrens. Ihm wurden mindestens fünf Millionen Dollar Schwarzgeld zugerechnet und Mitglieder seiner Familie sind in diesem Zusammenhang wegen Geldwäsche in Haft. Kurz nachdem er die Entscheidung des Abgeordnetenhauses zur Amtsenthebung Dilma geleitet hatte, wurde er vom Obersten Gerichtshofes seines Amtes enthoben.
Waldir Maranhao von der PP wurde Nachfolger von Cunha als Präsident des Abgeordnetenhauses. Er nahm zunächst dessen Entscheidung zurück, das Impeachmentverfahren an den Senat weiterzuleiten. Am nächsten Tag revidierte er jedoch diese Entscheidung auf Druck seiner eigen Partei PP und des Präsidenten des Senats Renan Calheiros. Am 04.07.2016 wurde vom Ministro do SPF das Bankgeheimnis Maranhaos wegen massiver Indizien auf Verstrickung in den Korruptionsskandal aufgehoben. Am 14. Juli 2016 wurde Rodrigio Maia sein Nachfolger als Präsident des Abgeordnetenhauses. Seinen Posten als Erster Sekretär des Abgeordnetenhauses behielt Maranhao jedoch.
Rogeria Maia (DEM) ist seit dem 14.07.2016 Nachfolger von Waldir Maranhao als Präsident des Abgeordnetenhauses. Seit der Amtsenthebung Dilma Rousseffs wäre er damit auch Nachfolger als Präsident, da nach dem Aufstieg Michel Temers zum regulären Präsidenten der Posten des Vizepräsidenten verwaist ist. Maia steht auf der „Lista Furnas“ zu illegalen Parteispenden im Jahr 2002.
Renan Calheiros (PMDB) war Präsident des Senats, der die endgültige Entscheidung über die Amtsenthebung Dilmas zu fällen hatte. Nachdem der neue Präsident des Abgeordnetenhauses Waldir Maranhao die Entscheidung seines Vorgängers Eduardo Cunha ausgesetzt hatte, widersprach er Maranhao und forderte die Übergabe des Falls an den Senat. [itg-tooltip href=“https://klausreuss.de/de/glossary/renan-calheiros“ tooltip-content=“<p>José Renan Vasconcelos Calheiros, geb. 16.09.1955 in Murici (AL); Politiker (PMDB); seit 1995 Senator, Präsident des Senats von 2005 bis 2007 (wegen Korruptionsvorwürfen zurückgetreten) und wieder von 2013 – 2017, 1998/99 Justizminister unter FHC.</p>“]Renan Calheiros[/itg-tooltip] wird selbst in mindestens fünf Fällen der Korruption beschuldigt, darunter die „Operacao Zelotes“.
Minister
Romero Juca (PMDB) war vom 12.05.2016 bis zum 23.05.2016 Minister für Planung im Kabinett des Interimspräsidenten Temer. Seine Karriere ist von Skandalen geprägt. Angefangen zu seiner Zeit als Präsident der Indiobehörde FUNAI als er gleichzeitig die Ausgaben und den Apparat massiv aufblähte, gleichzeitig aber alle Missionare und das medizinische Personal entließ. In seiner Zeit als Gouverneur von Roraima wurde ihm vorgeworfen Sozialleistungen im großen Stil veruntreut zu haben. Gegen ihn wird in den Fällen „Lava Jato“ und „Operacao Zelotes“ ermittelt. Sein Ministeramt verlor er nach nur zwei Wichen, nachdem ein Telefongespräch zwischen ihm und Sergio Machado veröffentlicht wurde, das belegen soll, dass Ziel des Impeachments gegen Dilma die Einstellung der Ermittlungen gegen konservative Politiker sei.
Fabiano Silveira musste nach zwei Wochen sein Amt als Minister für Transparenz (!) räumen, nachdem die Presse Gespräche veröffentlichte, in denen er dafür eintrat, staatliche Ressourcen dafür zu verwenden, in Korruptionsverfahren beschuldigte Parteifreunde und Verbündete zu verteidigen.
Henrique Eduardo Alves (PMDB) war vom 12.05.2016 bis 16.06.2016 Tourismusminister im Kabinett des Interimspräsidenten Temer. Er war einer der drei Minister, die kurz nach ihrer Benennung wegen der Verwicklung in den Korruptionsskandal zurücktreten mussten.
Senatoren
Zeze Perrella (PTB) war Senator und Ex-Präsident des Fußballvereins Cruzeiros. Er stimmte für das Amtsenthebungsverfahren. 2013 wurden in einem Helikopter, der seiner Familie gehörte, 455 kg Kokain und 17 Millionen Reais (damals ca 8,5 Millionen USD) aus Drogengeschäften gefunden. [itg-tooltip href=“https://klausreuss.de/de/glossary/zeze-perrella“ tooltip-content=“<p>José „Zezé“ Perrella de Oliveira Costa; geb. 22.02.1956 in São Gonçalo do Pará (PA); Unternehmer, Sportfunktionär (Cruzeiro Esporte Clube/MG) und Politiker ( PTB); Senator für Minas Gerais; Eigentümer eines Hubschraubers in dem 440 kg Kokain gefunden wurden.</p>“]Perralla[/itg-tooltip] und sein Sohn wurden freigesprochen. Der Helikopter entgegen dem Antidrogengesetz zurückgegeben. Weitere Beschuldigte wurden verurteilt und nach sechs Monaten freigelassen.
Ronaldo Caiado (DEM) war Senator und war einer der Initiatoren des Amtsenthebungsverfahrens. Er und seine Familie stehen auf einer Liste von Unternehmen, denen die Ausnutzung von Sklavenarbeit nachgewiesen sein soll.
Fernando Collor (PTC) war Senator und Ex-Präsident von Brasilien. 1992 entging er einer Amtsenthebung, weil er kurz vor Ende des Verfahrens selbst zurücktrat. Trotzdem wurde er – im Gegensatz zu Dilma Rousseff – für acht Jahre für alle politischen Ämter gesperrt. Gegen [itg-tooltip href=“https://klausreuss.de/de/glossary/fernando-collor“ tooltip-content=“<p>Fernando Affonso Collor de Mello; 12.08.1949 in Rio de Janeiro (RJ); Politiker (PTC), Journalist, Unternehmer; Staatspräsident von 1990 bis 1992, trat Stunden vor seiner Absetzung durch den Senat zurück und wurde für 8 Jahre für alle politischen Ämter gesperrt. Seit 2007 Senator.</p>“]Collor[/itg-tooltip] wird auch aktuell in der Affäre „Lava Jato“ ermittelt.
Aecio Neves von der stärksten Oppositionspartei PSDB unterlag Dilma 2014 in der Stichwahl. Er war einer der ersten, der nach der Wahl ein Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma forderte. Sein Name steht immer wieder auf den Empfängerlisten in diversen Korruptionsskandalen. Während seiner Amtszeit als Gouverneur von Minas Gerais wurde mit Staatsgeldern ein Flughafen auf dem Besitz seiner Familie gebaut. Mitglieder seiner Familie sind in den Drogenskandal um Zeze Perrella verwickelt.
Blairo Maggi war Senator und wurde Landwirtschaftsminister unter Temer. Schon 2005 bekam er von Greenpeace die „Auszeichnung“ Goldene Motorsäge. Es war auch seine Ernennung, die die zuständige Referentin der UNO, Victoria Tauli Corpuz, dazu bewog, der Interimsregierung Völkermord an der indigenen Bevölkerung vorzuwerfen. Und auch die brasilianische Justiz hat neuerdings Blairo im Visier wegen Begünstigung irregulärer Abholzung.
Auch die Senatoren Edison Lobao (PMDB), Valdir Raupp (PMDB), Benedito de Lira (PP), Ciro Nogueira (PP), Gladson Cameli (PP) und Fernando Bezerra Colelho (PSB) stimmten für das Impeachment. Und gegen sie wird im Korruptionsskandal Lava Jato ermittelt.
Weitere wichtige Personen
Jair Bolsonaro (bis März 2016 PP, danach PCB) ist der Abgeordnete, der im Bundesstaat Rio de Janeiro die meisten Stimmen erhielt. Er ist erklärter Befürworter einer Militärdiktatur und bekannt für rassistische Äußerungen, bei denen er unter anderem Indigene als Tiere bezeichnete. Auch sein Name tauchte als Empfänger auf der Korruptionsliste „Furnas“ auf.
Jose Serra war bei der Abstimmung im April noch Senator, jetzt steht er dem Kabinett Temer vor. [itg-tooltip href=“https://klausreuss.de/de/glossary/jose-serra“ tooltip-content=“<p>geb. 19 .03.1942 in São Paulo, Politiker (PSDB), Außenminister der Regierung Temer. War 3 Mal Senator, Gesundheitsminister (1998 – 2002), Planungsminister 1995/96, Gouverneur von Sao Paulo 2007 bis 2010.</p>“]Serra[/itg-tooltip] werden Geldwäsche zugunsten Eduardo Cunhas, Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von Aufträgen im Transportwesen, und Unregelmäßigkeiten bei der Privatisierungen vorgeworfen.
Geraldo Alckmin (PSDB) war Bürgermeister von Sao Paulo. Auch wenn [itg-tooltip href=“https://klausreuss.de/de/glossary/geraldo-alckmin“ tooltip-content=“<p>Politiker (PSDB); geboren 07.11.1952 in Pindamonhangaba (SP); 31. und 35. Gouverneur des Bundesstaates Sao Paulo; 2006 Präsidentschaftskandidat für die PSDB.</p>“]Alckmin[/itg-tooltip] immer wieder mit Korruption in Verbindung gebracht wird, und seiner Regierung Haushaltstricks in weit größerem Umfang als Dilma vorgeworfen werden, ist er hier jedoch wichtig, wegen seines Umgangs mit dem Demonstrationsrecht. Während Straftaten und Ausschreitungen auf den Demonstrationen gegen Dilma hingenommen wurden, griff die Polizei linke Demonstranten mit äußerster Gewalt an, auch gegen Reporter der Presse vor. So traf es am 03.September 2016 Reporter der BBC.
Eduardo Paes (PMDB) war Bürgermeister von Rio de Janeiro. Ähnlich wie bei Alckmin fallen in seine Amtszeiten Angriffe der Polizei auf Demonstranten und Pressevertreter. Allerdings ist [itg-tooltip href=“https://klausreuss.de/de/glossary/eduardo-paes“ tooltip-content=“<p>Eduardo da Costa Paes; geb.14,11.1969 in Rio de Janeiro (RJ); Politiker (PMDB); 2009 bis 2016 Bürgermeister der Stadt Rio de Janeiro.</p>“]Paes[/itg-tooltip] hier auch wichtig, weil er und sein Bundesstaat maßgeblich für die Krise in Brasilien verantwortlich sind. Vor den Olympischen Spielen war Rio de Janeiro zahlungsunfähig und auf Unterstützung der Bundesregierung angewiesen. Es ist nicht erheblich, ob die massiven Spenden der Bauindustrie und von Eike Batista legal oder illegal waren. Aber es waren überteuerte Projekte seiner Gönner, die Paes abgesegnet hat und die den Bundesstaat finanziell ruiniert haben.
Marcelo Freixo (PSoL) war linker Landtagsabgeordneter im Bundesstaat Rio de Janeiro. Als er sich gegen die Polizeigewalt in Favelas einsetzte, wurde [itg-tooltip href=“https://klausreuss.de/de/glossary/marcelo-freixo“ tooltip-content=“<p>Marcelo Ribeiro Freixo; geb.12.04.1967 in São Gonçalo (RJ)) Lehrer und Politiker (PSOL).Abergordneter im Landesparlament in Rio de Janeiro, Präsident der Kommission für Menschen- und Bürgerrechte, war Vorsitzender des Untersuchungsausschusses zur Mafiaorganisation Milicia.</p>“]Freixo[/itg-tooltip] im Internet schon 2013 mit einer Hasskampagne überzogen. Das zeigt, dass die Proteste waren schon in einem frühen Stadium von rechts gesteuert waren.
Die Rolle der Medien
Außer den Personen spielen auch die Medien eine große Rolle bei den Ereignissen. Wichtig ist dabei anzumerken, dass in der brasilianischen Medienlandschaft eine erhebliche Konzentration vorherrscht. 70% der Medien sind in der Hand von nur sieben Familien.
Der wichtigste Fernsehsender, O Globo berichtete nicht nur sehr parteiisch zu Gunsten der Opposition, auf der Demonstration erschienen die Mitarbeiter gleich organisiert in Bussen.
Aber auch vorher schon waren zumindest Fragen angebracht bezüglich der politischen Ausrichtung verschiedener Medien. Sowohl O Globo als auch die Zeitung Folha do Sao Paulo berichteten im Oktober über den Tod des mutmaßlichen Folterers Ustra, ohne die Diktion der Diktatur vom „Kampf gegen kommunistische Terroristen“ infrage zu stellen. O Globo diskutierte sogar die Möglichkeit eines Ehrenbegräbnisses.
Der dritte auffällige Aspekt ist sowohl aus journalistischer, als auch aus sprachlicher Sicht sehr interessant: Bei Verdachtsfällen der Korruption, die die PT betreffen, wird der Empfänger namentlich genannt, oder sogar eine Person als Synonym für eine Einrichtung genannt wird. Und der Empfänger wird grammatikalisch als Subjekt der Handlung eingesetzt: „Lula hat den Betrag xy genommen“. Bei Verdachtsfällen, die die Opposition betreffen erscheint der Empfänger nicht namentlich: „Bei diesem Vorgang sind von einem Unternehmen ein Betrag von xy bezahlt worden.“ Besonders irreführend ist es, wenn von „Mitgliedern der Regierung Dilma“ gesprochen wird, und es in diesen Fällen genau die Gegenspieler aus der PMDB oder kleineren Koalitionspartnern betrifft. Auch wird in den Medien, das allerdings von allen Seiten, nicht zwischen Verdachtsfällen, Ermittlungen, Verurteilungen und sogar legalen Zahlungen unterschieden.
Ursachen in der Gesellschaft
Ein ganz wichtiger, und auch Besorgnis erregender Punkt ist, wie wenig die Demokratie in Brasilien verankert ist, und wie wenig die Geschichte der brasilianischen Diktatur im Bewusstsein der Bevölkerung. So war zum Beispiel der Schriftsteller Bernardo Kucinski mit seinem Buch „K – Relato de um Busco“ 2013 auf der Buchmesse in Frankfurt, allerdings nicht als Mitglied der brasilianischen Delegation, sondern auf Einladung des Transit Verlags, der sein Romandebüt „K.“ auf Deutsch veröffentlichte.
Kucinski, Sohn einer polnisch-jüdischen Mutter, die während des Holocausts einen Großteil ihrer Familie verloren hatte, ging während der Militärdiktatur ins Exil nach London, bis er von der Verhaftung seiner Schwester erfuhr. Und dies war auch das einzige, was offiziell dokumentiert war. Erst 2012 wurde durch ein Interview eines pensionierten Offiziers bekannt, dass sie wohl ermordet und mit zehn weiteren Opfern verbrannt wurde. Der Roman „K.“ thematisiert das Verschwinden der Schwester und die Suche des Vaters nach ihr.
In einem Interview auf der Buchmesse erklärt Kucinski, dass die Militärdiktatur in Brasilien nicht zu einem Trauma der Gesellschaft geführt hat, sondern nur zu individuellen Traumata der persönlich Betroffenen. Auch sei die Aufarbeitung in keinem Land Südamerikas so spät und halbherzig erfolgt, wie in Brasilien. Die erst 2012 eingerichtete Wahrheitskommision hatte weder zum Zeitpunkt des Interviews noch bis heute greifbare Ergebnisse geliefert
Dazu kommt, dass auch in der ohnehin oft schlechte Bildung das Thema keine Rolle spielt. Und so lässt sich erklären, dass junge Leute einen Militärputsch fordern, und das Militär das glücklicherweise bis jetzt ablehnt, obwohl auch tief in das Folterregim verstrickte Personen wie der 2015 verstorbene Ustra bis zuletzt gute Kontakte zu hohen Führungsetagen des Militärs hatten.
Ein weiterer Punkt mangelnden Geschichtsbewusstseins ist die Einschätzung der wirtschaftlichen Krise Brasiliens. Brasilien steckt in einer tiefen Rezession, die Wachstumszahlen gehen seit 24 Monaten in Folge nach unten. Die Arbeitslosigkeit steigt und der Wert der Währung Real hat bis vor wenigen Wochen erheblich verloren.
Fazit
Nominell hat die Opposition wohl recht, wenn sie von der schlimmsten Krise der Geschichte spricht, doch lohnt sich hier ein Vergleich der absoluten Daten: Brasilien ist unter der Regierung Lulas zur siebtgrößten Industrienation aufgestiegen, die Inflation sank von über 40 % auf 8 %. und auch die Staatsverschuldung liegt immer noch weit unter den Werten der 80iger und 90iger Jahre.
Gerade was die Ärmeren und Ärmsten betrifft sind die Erfolge vor allem unter Lula nicht zu übersehen: Programme wie die weltweit anerkannte Bolsa Familia und Minha Casa, Minha Vida haben über 20 Millionen Menschen aus bitterer Armut geführt. Doch sind es auch diese Sozialprogramme, die jetzt von den Demonstranten kritisiert werden. Und auch die Arbeitnehmerrechte für Hausangestellte werden angeprangert.
Und so sind wir noch einmal bei einer Pararelle zu den USA angelangt, denn ähnlich wie bei „Obamacare“ spricht die rechte Opposition gerne von einer „kommunistischen Diktatur“.
Pingback:Abá e.V.